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A Fight Club Within  tobias

„Sicher werde ich manchmal komisch angeschaut”, meint Tobias Prüwer, „aber ich finde es eher lustig, wenn ich höre, dass man sich einen Theaterkritiker anders – will heißen: seriöser im Look – vorgestellt hat. Wer bei bestimmten Arbeitgebern tätig ist oder zum Jobcenter muss, kann sich da ganz andere Sachen anhören.” Tobias Prüwer ist tätowiert, hat geweitete Ohrläppchen und einen erfrischend kenntnisreichen, ungewöhnlichen und spannenden Essay zum Thema Body Modification geschrieben, der nun als Buch erschienen ist. Wie der Gegenstand seiner Untersuchung selbst bleibt auch Prüwer nicht an der Oberfläche stehen, sondern geht tiefer und fördert erstaunlich Buntes zutage. Wir sprachen mit dem Autor über Piercing als Widerstand, Tätowierung als Mode (oder umgekehrt) und die mannigfaltigen Motive, seinem Körper zu zeigen, wo es langgeht.

WAHRSCHAUER: In deinem Buch geht es um Body Modification, kurz BodyMod. Was umfasst der Begriff? 

Tobias: Zunächst einmal alle Praktiken, die den Körper verändern, vom Haarefärben bis zum Zungenspalten. Sinnvoll eingrenzen lässt sich der Begriff auf Praktiken, die auf relative Permanenz abzielen. Demnach gehören Bodybuilding, Schönheits-OPs und Diäten dazu. In meinem Buch betrachte ich jedoch nur jene Praktiken, die nicht – vielleicht noch nicht? – in dem Grad akzeptiert sind, wie diese kosmetischen Korrekturen, also Techniken wie das Tätowieren, Piercen, Dehnen, Branding, Scarification.  

W: Sind Tätowierungen und Piercings nicht schon längst Mainstream?

T: Natürlich haben Akzeptanzschübe stattgefunden. Allerdings nur, wenn sich die Körperveränderung im Rahmen von Modekonventionen bewegt: Die Medien beschreiben eine Rose auf dem Schulterblatt als hübsch, ein bisschen mehr als hässlich. Viele BodyMods lassen sich eher als Anti-Mode verstehen: Sie entziehen sich gerade durch die Permanenz der durchgeführten Veränderungen den auf Wandel angelegten Modezyklen. 

W: Wo ist aus wissenschaftlich-philosophischer Perspektive das Problem, wenn jemand etwas mit seinem Körper anstellt, das nicht dem Mainstream entspricht?

T: Da schwingen wohl einerseits religiöse Restvorstellungen vom gottgegebenen Körper mit, an den ich keine Hand anlegen darf. Dazu kommen Unverständnis und das Unbehagen, dass hier jemand nicht der Norm entspricht. Eigentlich sollte man meinen, dass man mit aufgeklärtem Blick keine Schwierigkeiten damit haben sollte - und doch werden BodyMod-TrägerInnen oft pathologisiert, als unnormal bis krank hingestellt. Im günstigsten Fall ist die junge Frau mit dem Tribal oder Stern auf der Schulter naiv und lässt sich von der Mode beeinflussen. Schlimmstenfalls wird das gleich als Selbstverstümmelung stigmatisiert. 

W: Wie kommt das?

T: BodyMods lassen sich in meiner Lesart als Versuch fassen, eine gewisse Deutungshoheit über den eigenen Körper zu erheben: „Es ist mein Körper und ich kann damit machen, was ich will.“ Sie sind gefährlich für die sogenannte „gesunde Norm“ und stellen die Selbstverständlichkeit der Normalität infrage - ähnlich wie schwule oder lesbische Partnerschaften irrationale Ängste hervorrufen. Anhand der gesellschaftlichen Ablehnung der BodyMod-Praktiken lässt sich dann auch Foucaults These über die Bedeutung der Biopolitik in unserer Zeit nachvollziehen.  

W: Inwiefern?

T: Man darf eben nicht so einfach über den eigenen Körper verfügen, wie man vielleicht denkt. Wer dem Körper schadet, schädigt die Allgemeinheit - denn über ihn ist die Allgemeinverfügung verhängt, er dient Fortschritt und Wohlstand. Und hier müssen gerade die BodyMod-Praktiken einerseits als von „Wilden“ übernommen und damit „unzivilisiert“ erscheinen - oder aber als Spiegelung der peinlichen Körperstrafen früherer Jahrhunderte. Doch die hat man schließlich durch das Gefängnis mit Tütenkleben oder die Zwangsarbeit abgeschafft, wo der Körper zum „Allgemeinwohl“ produktiv eingesetzt wird. Damit stellt sich Body Modification auch als ein Fremdes dar, das ins soziale System einbricht, als das Irrationale, das hier keinen Platz hat.  

W: Body Modification als Widerstand?

T: Das wäre zu einfach. Natürlich darf man weder den Fehler machen, Body Modification zur großen Protestform zu idealisieren, noch sie als Modeerscheinung abtun - da muss eben mehr Differenzierung her, zu der ich mit meinem Buch beitragen möchte. Gleichzeitig darf das Individualisierungsmoment bei der Selbstgestaltung des Körpers aber auch nicht ignoriert werden. Nicht zuletzt erscheint der Körper angesichts ständiger Anrufungen von Werbung, Diät- und Fitnessindustrie und der Durchdringung der Freizeit durch die Arbeitswelt als ein Rückzugsort bürgerlicher Ausbruchsfantasien, als ein „Fight Club within”, wie ich es in meinem Essay formuliere. Damit zusammen hängt das Begehren nach Erfahrungen von Unvermitteltheit und Unmittelbarkeit, welche innerhalb der mehr und mehr medial - also vermittelt - erfahrenen Welt und Wirklichkeit abnehmen. So ist es möglich, dass BodyMod eine Möglichkeit zur Freiheit darstellt, eben weil ein anderes Körperverhältnis eingenommen werden kann. Und vielleicht ermutigt die Erfahrung solch kleiner, individueller, normverletzender Freiheit dazu, auch andere Normen nicht als unveränderbar hinzunehmen. 

W: Warum hast du BodyMods?

T: Das muss ich an dieser Stelle vielleicht nicht in den Vordergrund rücken. Mir ist es wichtiger zu betonen, dass es nicht die eine, richtige Motivation für BodyMods gibt, sondern ganz viele verschiedene. Ob man nun für sich selbst oder für andere attraktiver sein will, das aus einer „Jugendsünde“ heraus gemacht hat, aus Gründen der Sex-Optimierung oder um einen Schicksalsschlag zu verarbeiten, um einen Lebensabschnitt am eigenen Leib zu vermarkieren oder sein Körpergefühl über die Hautzeichnung zu verändern, ist einerlei und gleichermaßen gültig. Diese Vielheit der Motive zeigt eben auch, dass man die BodyMod nicht so pauschal begreifen kann, wie das meist geschieht. 

Tobias Prüwer: Fürs Leben gezeichnet. Body Modification und Körperdiskurse. 125 Seiten, Parodos Verlag, Berlin, 2012.