las-vegas_berlinIm Las Vegas für Fake-Alternative!

Letzten August rief ein Freund an und sagte aufgeregt: „SUEDE spielen im Dezember in Berlin!" - Als ich 1994 zum ersten Mal in London sowie in der bezaubernden Landflucht-Enklave Brighton war, lagen die drei neuen Scheiben von SUEDE („Dog man star"), OASIS („Morning Glory") und BLUR („The great escape") bei Freunden herum, was zur Entstehung eines neuen Lebensgefühls binnen weniger Stunden führte. Zurück nach Berlin ging es mit unbekannten Schokoriegeln, diversen Musikmagazinen und ein paar neuen Alben. Insbesondere SUEDE waren cool, da sie - auch aufgrund der Videos zu ihren Singles - ein etwas morbides Glam-, Queer- und Geschlechtsverdrehungs-Feeling in ihre Musik hineingebracht hatten, wie es in der Form seit David Bowies später Früh-Phase nicht mehr gab. Anfangs war es amüsant, dass viele dachten, der einzige Schwule in der Band (Drummer Simon) sei der einzige Hetero. Die britischen Gazetten schrieben, das läge an seinen kurzen Haaren. Da haben wir aber gelacht: Lange Haare sind bei Homos seit ungefähr 1971 out.

3. Dezember 2010 in der ausverkauften C-Halle, Freund Thomas hatte aus London, wo SUEDE vorher aufgetreten waren, die Setlist geschickt („Uuuh! Sie spielen „Killing of a flash boy!"). Und nicht nur das: neben einigen anderen beliebten B-Seiten war das Konzert vor allem ein Greatest-Hits-Event: „So young", „Animal Nitrate", „Trash", „We are the pigs"... Fast alle Singles wurden gespielt, lediglich „Saturday night" fehlte. Ein schönes und Gänsehaut erzeugendes Intermezzo war, als Brett Anderson ganz allein nur mit der Akustischen „The living dead" spielte. Es fiel auf, wie wahnsinnig gut die Band live funktioniert und es war schwer zu glauben, dass SUEDE sich seit langer Zeit nichts mehr zu sagen hatten. Den Bemerkungen von Brett war zu entnehmen, wie sehr er Berlin liebt und dass es vielleicht nicht das letzte Mal ist, dass die Band hier auftritt. Ich hoffe, wenn ein neues Album erscheinen sollte, dass es die Inspiration und den Geist früherer Tage erweckt und transformiert - natürlich ist es positiv zu sehen, wenn Bands sich weiterentwickeln, neue Wege gehen und so weiter - aber mal ehrlich: die letzten ein bis zwei SUEDE-Alben waren grauenhaft. Ein Vergleich zu den genialen ersten zwei bis drei Alben ist unmöglich, ohne in Tränen auszubrechen.

In Tränen ausbrechen - wenn auch aus anderen Gründen wie zum Beispiel Freude - lässt sich bei der ebenfalls etwas düsteren neuen Band ESBEN AND THE WITCH. Die Frau und die beiden Männer kommen aus dem schönen Küstenstädtchen Brighton, wo es eine große und lebendige Alternativ-Szene sowie einen alten, einen neuen Pier und das Meer gibt. „Violet cries" - so der Albumtitel - hat laut der Band keine weitere Bedeutung. Auch was die Texte auf dem Werk angeht, hält die Band sich bedeckt. Das Ganze wirkt eher wie ein Spiel mit den Medien oder einer Unlust, Texte erklären zu wollen. Diese haben eine gewisse Tiefe und lassen Themen manchmal durchschimmern oder erahnen.
Von den Bands der letzten Zeit, welche sich wie SIOUXSIE & THE BANSHEES anhören (es gibt gar nicht so wenige), sind ESBEN AND THE WITCH am verspieltesten und in gewisser Weise sperriger als die anderen düsteren, an vergangene Goth- und Wave-Zeiten mahnenden Gesellen. Das Album will öfter als einmal gehört sein, ehe es sich langsam aber sicher erschließt. Es wird mit der Zeit zu einem starken Werk, welches jedoch weit hinter der Live-Präsenz der Band zurück bleibt. So wirklich super-neu ist das alles nicht, da Rachel, Daniel und Thomas sich fleißig im Musikbaukasten bedient haben und Steine rausnahmen, wo „Goth", „Shoegazer", „Dark-Folk", „Wave" und „Post-Punk" drauf steht. Aber das neu und erfinderisch zusammen gesetzte Rezept ist spannend und funktioniert wunderbar, nicht zuletzt aufgrund der Ironiefreiheit des Albums und der Kompromisslosigkeit, welche in Bezug auf die Songstruktur erkennbar ist - ein Alptraum für jemanden, der entscheiden soll, welches Lied als Single funktionieren könnte. Ob die Band wohl deswegen mit dem Label „Nightmare Pop" belegt wird?

ESBEN AND THE WITCH treten im Februar im neuen Berliner Club Komet auf. Die Bandmitglieder kommen vor dem Gig auf die Bühne, stimmen ihre Instrumente und stellen Glasköpfe auf die Bühne, unter denen sich Lämpchen befinden, was die spätere Moorleichen-Atmosphäre noch unterstreichen wird, denn ansonsten wird das Bühnenbild von zwei uralten Wohnzimmerlampen sowie Nebel geprägt. Der Gig startet mit „Argyria" und baut sich dramatisch auf, während das Debüt fast komplett gespielt wird. Vor allem Sängerin Rachel schafft es, einem den Atem stocken zu lassen - es wirkt so, als ob sie Emotionen der Zuhörer und Zuschauer an unsichtbaren Fäden zu sich rauf auf die Bühne zieht. Besonders bei der Single „Marching Song" (hervorragendes Video!) funktioniert dies gut. Der Höhepunkt des Konzerts ist, als alle drei Bandmitglieder sich zusammenfinden, um in anfangs unterschiedlichem Rhythmus und verschiedener Intensität auf die große Trommel zu hauen, welche auf der Mitte der Bühne steht, bevor sich die drei langsam wieder auseinander dividieren und den Rest des Songs in den Himmel oder aber gut inszeniert zu Grabe tragen.
Leider dauert der düstere und intensive Spaß weniger als eine Stunde. ESBEN AND THE WITCH passen hervorragend ins Komet, die Größe des nicht ganz ausverkauften Clubs ist gut geeignet. Mal sehen, ob wir die Band noch mal in einer dermaßen intimen Atmosphäre erleben dürfen.

Für den OBITS-Gig im Lido am 15. Oktober hatte ich früh eine Karte besorgt, weil ich dachte, ein Konzert von so einer Obercool-Sau-Band wird bestimmt schnell ausverkauft sein. Als ich an besagtem Tag vorm Lido stehe, denke ich, dass ich mich mit dem Datum vertan habe: gähnende Leere. Im Laden selbst: fast das Gleiche. Nach der Vorband wird es ein kleines bisschen voller. Dennoch spielten OBITS ihr Oeuvre handwerklich perfekt und nicht ohne Enthusiasmus durch, als wäre der Laden bis zum Bersten gefüllt. Ihr Gemisch aus runtergestripptem Old-School-Rock, Surf-Gitarren und Garage-Punk kombiniert mit der Kläff-Schrei-Sing-Stimme des Frontmanns sowie diesem seltsamen Gefühl von einem gewissen SONIC-YOUTH-Intellekt bei den genialen Gitarrenläufen ist faszinierend, und es entzündet sich ein internes körpereigenes Feuerwerk, was fast immer das Schönste ist, was in einem Konzert passieren kann.
Am Schluss des Gigs ruft Sänger Rick Froberg in den Zuschauerraum, wenn jemand was mit ihnen trinken gehen will, sollen die Leute einfach vor der Bühne warten, da sie sich nicht so gut in Berlin auskennen. Na - diese Kreuzberger Gegend schreit förmlich nach Ausgehen. In Fußnähe sind elf Clubs, dreißig Restaurants und vierzehn Millionen Bars...was wohl aus den OBITS geworden ist an diesem Abend?
Das zweite Album der Band namens „Moody, standard and poor" erschien am 29. März 2011 - somit sind sie wohl nicht in Kreuzberg „untergegangen", eine Sorge, die etlichen Müttern und Vätern dieser Welt seit Jahrzehnten den Schlaf raubt, wenn ihre Sprösslinge nach Berlin reisen.

Untergehen lässt sich auch ganz gut in anderen Stadtteilen, zum Beispiel Friedrichshain, watt der Bezirk is wo ick wohnen tue. Der Ort ist - zumindest am Wochenende - für sogenannte Einheimische kaum noch nutzbar, da sich hier ein Las Vegas für Fake-Alternative entwickelt hat, die mit in Folter-Fabriken hergestellten Che-Guevara-Shirts rumlaufen. In den Straßen fallen oder kotzen einem ständig Easyjet-Vielflieger vors Fahrrad, was beides nicht sehr schön ist. Die sind neben volltrunken auch noch genervt, weil sie dank umsichtiger Türpolitik nicht ins Berghain reingelassen wurden. Ansonsten befinden sich neben diesem nach wie vor geradezu himmlischen Club nur noch wenige gute Ausgeh-Orte in der Gegend, denn diese ergreifen von selbst die Flucht oder müssen den Investoren weichen - wie gerade aktuell das Maria. Inzwischen ist es üblich, dass coole Locations sich außerhalb des S-Bahn-Rings befinden und so langsam aber sicher Orte erschlossen werden, die uns Stadtkern-Kindern bisher unbekannt waren, wie zum Beispiel Karlshorst, Rummelsburg und Süd-Neukölln. Vor allem im Ostteil der Stadt sind diese Orte relativ charmant durch das Fehlen einer so genannten Infrastruktur (das heißt: die Möglichkeit, dass der Club gleich wieder schließen muss, weil eine widerliche Drogerie-Filiale ihre eintausendvierundsechzigste Zweigstelle platziert, fällt weg) und es macht Spaß - zumindest in den ein bis zwei wärmeren Jahreszeiten - mit dem Rad oder mit der S-Bahn rumpeliges Neuland zu erkunden.
Aktuell findet eine spannende Entwicklung in der einst ersten Hundekuchenfabrik der Welt statt, wo sich seit einiger Zeit das Sysiphos befindet. In etwas unregelmäßigen Abständen finden hier Themen-Parties statt. Auf zwei Dancefloors gibt es diverse Musikstile mit ausgeprägen Techno-Anteilen zu erleben. Die langen Nächte können bis zum Sonntagabend ausgedehnt werden. Auf der letzten Party gab es in der Mitte des Mainfloors ein Karussell, welches sich rasch drehte und die Leute noch kirrer werden ließ als es der Ort an sich, die tolle Musik, das schöne Licht und die vielen Anwesenden es eh schon taten. Selbst als der Motor den Geist aufgab, drehte sich das schöne Gefährt weiter, da immer wieder mehrere Leute damit beschäftigt waren, das Ganze mit der zweieinhalb Meter hohen Venus de Milo in der Mitte in Schwung zu halten. Im Sommer ist der Laden noch schöner, da sich auf der Freifläche, von der Sonne angestrahlt, in einem kleinen See baden lässt.

P.S.: Der nächste Teil von "Punk and the city" dreht sich um ein Festival in London verbunden mit der Frage, warum ERASURE alternativer sind als AGAINST ME!

Stay tuned!